Reiner Kunze (geb. 1933)

Reiner Kunze (1970)
Foto: Privat [8]


Reiner Kunze wurde am 16. August 1933 in der erzgebirgischen Kleinstadt Oelsnitz geboren. Seit 1978 lebt er mit seiner Frau Elisabeth im bayerischen Obernzell-Erlau.

Reiner Kunze war mit Brigitte Reimann befreundet. Seine Briefe an Brigitte Reimann erschienen 2017 unter dem Titel „So gut wie möglich Kunst (Literatur) machen, Brigitte, das ist uns aufgetragen“. Brigitte Reimanns Briefe an Reiner Kunze sind leider nicht erhalten geblieben.

Reiner Kunzes Lyrik und Prosa wurde in dreißig Sprachen übersetzt; er selbst übersetzte aus dem Tschechischen ins Deutsche und schuf zahlreiche Nachdichtungen tschechischer Lyrik.

2018 erschien anlässlich Reiner Kunzes 85. Geburtstag in der Edition Toni Pongratz der Essay „Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen“.


Lebenschronik


1933
Reiner Kunze wurde am 16. August in der erzgebirgischen Kleinstadt Oelsnitz als Sohn des Steinkohle-Bergarbeiters Ernst Kunze und der in der Strumpfindustrie beschäftigten Heimarbeiterin Martha Kunze geboren. Bereits als Kind erkrankte Reiner Kunze schwer: Ein endogenes Ekzem am ganzen Körper verhinderte eine normale Kindheit und grenzte ihn von den anderen Kindern ab. Dazu kam chronisches Asthma. Im einfachen, aber liebevollen Elternhaus fühlte sich Reiner Kunze sicher aufgehoben. Die Volkslieder, die seine Mutter häufig sang, prägten seine lyrische Veranlagung.

1949
Von 1949 bis 1951 besuchte Reiner Kunze eine Aufbauklasse für Arbeiterkinder an der Oberschule in Stollberg/Erzgebirge. Eines Tages holte der Rektor der Oberschule, Fritz Bellmann, Reiner Kunze aus dem Unterricht und eröffnete ihm, dass er ihn als Kandidat der SED vorzuschlagen gedachte, was der sechzehnjährige Internatsschüler als eine Ehre empfand. 

1950
Am 1. Juni trat Reiner Kunze als Kandidat in die SED ein.

1951
Reiner Kunze legte das Abitur ab. Von 1951 bis 1955 studierte er Philosophie und Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig.

1953
Kunze veröffentlichte in der Zeitschrift „Neue deutsche Literatur“ erste Gedichte.

1954
Reiner Kunze absolvierte im Rahmen des Studiums ein Praktikum bei der Magdeburger „Volksstimme“. Er wurde für besonders gute Reportagen gelobt und durfte zeitweilig die Kreisredaktion Haldensleben selbstständig leiten. In dieser Zeit war Reiner Kunze Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ (AJA) des Bezirkes Magdeburg und lernte dort auch Brigitte Reimann kennen. 

1955
Nach dem Studium bekam Reiner Kunze an der Fakultät für Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig eine Assistentenstelle mit Lehrauftrag. Kunze trat in den Journalistenverband ein und wurde in den Schriftstellerverband der DDR aufgenommen. Reiner Kunze heiratete und bekam gemeinsam mit seiner Frau Ingeborg den Sohn Ludwig (die Ehe wurde im April 1960 geschieden).

1959
Reiner Kunze musste – wenige Wochen vor der Promotion – die Universität aus politischen Gründen verlassen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war Kunzes Rede auf einer FDJ-Versammlung am 8. Februar, in der er die allgegenwärtige Schönfärberei an der Fakultät öffentlich kritisierte. Kunze wurde außerdem vorgeworfen, er würde die Studenten entpolitisieren und selbst konterrevolutionäre Verbindungen unterhalten. Eine große Öffentlichkeit erreichte im Juni 1959 eine Sendung des Berliner Rundfunks, in der Liebesgedichte von Reiner Kunze ausgestrahlt wurden, dessen erster Lyrikband „Vögel über dem Tau“ in jenem Jahr erschienen war. Eine junge deutsch-tschechische Ärztin hörte im Juni die Lyriksendung im Berliner Rundfunk. Sie bat in perfektem Deutsch – den falschen Rundfunksender – um die Zusendung des Gedichts „Das Märchen vom Fliedermädchen“. Auf Umwegen erreichte ihre Karte fast ein halbes Jahr später den Fliedermädchen-Dichter. Die junge Fachärztin für Kieferorthopädie Elisabeth Littnerová und der Lyriker Reiner Kunze verliebten sich ineinander – obwohl sich ihre Beziehung wegen der geschlossenen Grenzen ausschließlich auf die Korrespondenz beschränken musste. Ein telefonisch bejahter Heiratsantrag und eine Lesung in Aussig, zu der Reiner Kunze auf Vermittlung von Elisabeth Littnerová eingeladen wurde, waren der Schlüssel zur ersten persönlichen Begegnung.

Kunzes erotische Liebesgedichte widersprachen nach Meinung der DDR-Kulturoberen genauso wie Siegfried Pitschmanns Schwarze-Pumpe-Roman „Erziehung eines Helden“ dem gerade beschlossenen Bitterfelder Weg. Am 9. Juni wurde gegen den unliebsamen Assistenten, der inzwischen seine Kündigung eingereicht hatte, ein Parteiverfahren eröffnet; ein Tribunal, das jenem glich, das nur einen Monat später auch seinen Schriftstellerkollegen Siegfried Pitschmann treffen und diesen in einen Selbstmordversuch treiben sollte. Kunze brach mit der sozialistischen Ideologie, ohne dies jedoch vorerst – aus Rücksicht auf die mit ihm befreundete Sibylle-Chefredakteurin Edith Nell (Witwe des Schriftstellers Peter Nell) und seinen Dekan Hermann Budzislawski – mit dem eigentlich notwendigen Schritt des Parteiaustritts zu untermauern (das sollte Reiner Kunze erst im Jahr 1968 tun). Reiner Kunze ging von 1959 bis 1961 als Hilfsschlosser in den VEB Schwermaschinenbau Verlade- und Transportanlagenbau (VTA) Leipzig. Tagsüber montierte er Achsen für Schreitbagger, nachts schrieb er.

1961
Der Schriftsteller Kunze war genauso wenig wie sein Kollege Pitschmann für den rauhen Alltag in der Produktion geschaffen. Nach wenigen Monaten im VTA war seine Gesundheit ruiniert. Rettung verschaffte Erwin Strittmatters Fürsprache, die Kunze die Möglichkeit eröffnete, sich mit der Ausbildung von Nachwuchsschriftstellern in Berlin einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen. Reiner und Elisabeth Kunze heirateten am 8. Juli in Aussig.

1962
Im Juni zogen Elisabeth und Reiner Kunze gemeinsam nach Greiz in Thüringen. Elisabeth brachte aus erster Ehe ihre Tochter Marcela mit. Das Gehalt der Ärztin, die als Kieferorthopädin in der Kreisjugendzahnklinik und als Kieferchirurgin im Kreiskrankenhaus Greiz arbeitete, sicherte das Familieneinkommen. Ab 1962 arbeitete Reiner Kunze als freiberuflicher Schriftsteller, veröffentlichte seit 1963 auch in der Bundesrepublik. Die Veröffentlichungen wurden zwar offiziell vom Büro für Urheberrechte der DDR genehmigt, waren den Funktionären aber dennoch stets ein Dorn im Auge. Neben dem Schreiben eigener Gedichte spezialisierte sich Kunze auf Nachdichtungen tschechischer und slowakischer Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke der Autoren Ludvík und Milan Kundera, Vladimír Holan, Miroslav Holub, František Hrubín, Jaroslav Seifert und vor allem Jan Skácels.

1968
Reiner Kunze erhielt – für den 1967 bei Merlin Hamburg erschienenen Band „Fährgeld für Charon“ mit 80 ins Deutsche übertragenen Gedichten Jan Skácels – in Prag den Übersetzerpreis des tschechischen Schriftstellerverbandes. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei am 21. August und der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings durch die Warschauer Pakt-Staaten wurde der tschechische Schriftstellerverband aufgelöst, kritische Autoren erhielten Berufsverbot oder wurden in die Produktion zwangsverpflichtet. Kunze vollzog nun auch de jure den längst ideell vollzogenen Austritt aus der SED und gab am 26. August sein Parteibuch zurück. Am 19. November wurde er wegen „parteifeindlichen Verhaltens“ aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ausgeschlossen. Das Ministerium für Staatssicherheit legte unter dem Decknamen „Lyrik“ eine Akte über Reiner Kunze an.

1969
Mit dem Lyrikband „sensible wege“, der im Frühjahr 1969 bei Rowohlt erschien, gelang Reiner Kunze im Westen der literarische Durchbruch, aber der Band machte ihn in der DDR endgültig zur persona non grata. Auf dem Schriftstellerkongress in Berlin vom 28. bis 30. Mai wurden Reiner Kunze für „sensible wege“ und Christa Wolf für „Nachdenken über Christa T.“ von Max Walter Schulz abgeurteilt. Reiner Kunze wurde in den darauf folgenden Jahren fast nur noch von kirchlichen Kreisen zu Lesungen eingeladen, oder seine Lesungen wurden boykottiert, Verlagsverträge wurden gekündigt, sein Name wurde nicht mehr erwähnt.

1973
Dass dennoch der Band „Brief mit blauem Siegel“ bei Reclam Leipzig erschien, war eine kleine Sensation. Die erste und die zweite Auflage von je 15.000 Exemplaren waren innerhalb von Stunden ausverkauft. Viele derjenigen, die vergebens versucht hatten, ein Exemplar zu bekommen, begannen sogar, das Buch mit der Hand oder der Schreibmaschine abzuschreiben. Nur wenige Wochen später, nach Reiner Kunzes München-Reise anlässlich der Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, wendete sich das Blatt wieder. Parteifunktionäre setzten auf Kommando der Dogmatiker in Politbüro und Staatssicherheitsdienst zu einer Treibjagd auf den Autor und seine Familie an, von der sogar Leser des Buches „Brief mit blauem Siegel“ nicht ausgenommen wurden. Reiner Kunze erinnert sich: „Die Ablösung Ulbrichts durch den wesentlich jüngeren Erich Honecker an der Staatsspitze der DDR bedeutete u. a., dass jüngere Parteifunktionäre, die aus der Freien Deutschen Jugend kamen, in Regierungsämter gelangten, z. B. der stellvertretende Minister für Kultur, Kurt Löffler. Manche dieser Funktionäre wollten ein besseres Verhältnis zu den Künstlern und Schriftstellern herstellen und versuchten, auf kulturellem Gebiet eine begrenzte Liberalität durchzusetzen. Kurt Löffler besuchte uns in Greiz und sagte wörtlich, die Partei habe Fehler gemacht, die man künftig vermeiden wolle. Er bat mich, zu helfen. So kam es zum Erscheinen des Gedichtbandes ‚Brief mit blauem Siegel‘ und zu der Zusage, das Kinderbuch ‚Der Löwe Leopold‘ auch in der DDR zu veröffentlichen. Doch die Dogmatiker im Politbüro und im Schriftstellerverband, vor allem aber die Funktionäre an der Parteibasis verwahrten sich energisch gegen diesen ‚Verrat am Sozialismus‘. Es handelte sich also um einen innerparteilichen ideologischen Richtungskampf, in dem die ‚Löfflers‘ alsbald resignierten oder Selbstkritik übten. Den Gedichtband durchzusetzen, war ihnen gelungen, die 15.000 fertigen Exemplare der DDR-Ausgabe des ‚Löwen Leopold‘ wurden jedoch eingestampft.“

1976
Am 8. September erschien Reiner Kunzes Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ bei S. Fischer in Frankfurt am Main. Das Buch wurde ein sensationeller Erfolg und verkaufte sich mehr als eine halbe Million mal. Dass es dem Autor gelungen war, vom DDR-Büro für Urheberrechte eine Druckgenehmigung für den westdeutschen Verlag S. Fischer zu bekommen, ohne das Manuskript vorgelegt zu haben, sorgte für einen innerparteilichen Eklat. Eine Strafverfolgung Reiner Kunzes war aber ausgeschlossen, da das Buch offiziell genehmigt worden war. Als „Alternativlösung“ wurde Reiner Kunze am 3. November aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam.

1977
Um der scheinbar drohenden Verhaftung zu entgehen – eine gezielt lancierte Absicht, um Kunze zum Verlassen der DDR zu bringen –, stellte Reiner Kunze am 7. April für die gesamte Familie einen Ausreiseantrag, der am 10. April genehmigt wurde. Am 13. April verließen Marcela Kunze und ihr Verlobter sowie das Ehepaar Elisabeth und Reiner Kunze die DDR. Im Oktober erhielt Kunze für das Buch „Die wunderbaren Jahre“ den Georg-Büchner-Preis; die Laudatio hielt Heinrich Böll. Reiner Kunze wurde der Georg-Trakl-Preis verliehen.

1978
Seit 1978 leben Reiner Kunze und seine Frau im bayerischen Obernzell-Erlau.

1981
Reiner Kunze wurde der Geschwister-Scholl-Preis verliehen.

1988
1988/89 hatte Kunze Gastdozenturen für Poetik an den Universitäten in München und Würzburg inne.

1993
Reiner Kunze erhielt das Große Bundesverdienstkreuz.

1995
Reiner Kunze wurde zum Ehrenbürger der Stadt Greiz ernannt.

1996
Reiner Kunze erhielt den Weilheimer Literaturpreis.

1999
Reiner Kunze wurde der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg verliehen.

2006
Reiner Kunze gründete gemeinsam mit seiner Ehefrau Elisabeth die Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung.


Werke


Vögel über dem Tau. Mitteldeutscher Verlag (1959); Aber die Nachtigall jubelt. Mitteldeutscher Verlag (1962); widmungen. Hohwacht (1963); Poesiealbum. Verlag Neues Leben (1968); Sechs Variationen über das Thema „Die Post” und drei Gedichte. Rowohlt (1968); sensible wege. Rowohlt (1969); Der Löwe Leopold. S. Fischer (1970); Der Dichter und die Löwenzahnwiese. Berliner Handpresse (1971); zimmerlautstärke. S. Fischer (1972); Brief mit blauem Siegel. Reclam, Leipzig (1973); Die wunderbaren Jahre. S. Fischer (1976); Das Kätzchen. S. Fischer (1979); auf eigene hoffnung. S. Fischer (1981); Ergriffen von den Messen Mozarts. Ed. Pongratz (1981); gespräch mit der amsel. S. Fischer (1984); eines jeden einziges leben. S. Fischer (1986); Das weiße Gedicht. S. Fischer (1989); Selbstgespräch für andere. Reclam, Stuttgart (1989); wundklee. Fischer Taschenbuch (1989); Zurückgeworfen auf sich selbst. Ed. Pongratz (1989); Deckname „Lyrik“. Dokumentation. Fischer Taschenbuch (1990); Am Krankenbett des Tierbildhauers Heinz Theuerjahr. Ed. Pongratz (1991); Mensch ohne Macht. Ed. Pongratz (1991); Wohin der Schlaf sich schlafen legt. S. Fischer (1991); Am Sonnenhang. S. Fischer (1993); Begehrte, unbequeme Freiheit. Ed. Pongratz (1993); Sprachvertrauen und Erinnerung. Ed. Pongratz (1994); Wo Freiheit ist. S. Fischer (1994); Der Dichter Jan Skácel. Ed. Pongratz (1996); Steine und Lieder. S. Fischer (1996); Aus den Briefen des Mautners Hans Salcher. Ed. Pongratz (1997); Bindewort „deutsch“. Ed. Pongratz (1997); ein tag auf dieser erde. S. Fischer (1998); Zeit für Gedichte. Ed. Pongratz (2000); gedichte. S. Fischer (2001); Die Regenwolken zogen ab. Reche (2001); Die Aura der Wörter. Radius (2002); Der Kuß der Koi. S. Fischer (2002); Wie macht das der Clown. Reche (2003); Wo wir zu Hause das Salz haben. S. Fischer (2003); Erfurter Rede. Ed. Pongratz (2004); Die Leidenschaft des Schreibens. Ed. Pongratz (2004); Bleibt nur die eigne Stirn. Radius (2005); lindennacht. S. Fischer (2007); Mensch im Wort. Ed. Pongratz (2008); Die Sprache, die die Sprache spricht. Ed. Pongratz (2009); Was macht die Biene auf dem Meer? S. Fischer (2011); Wenn wieder eine Wende kommt. Ed. Pongratz (2011); Fern kann er nicht mehr sein. Ed. Pongratz (2013); Reden und Gedichte 2014/2015. Mytze (2015); Am Sonnenhang. S. Fischer (2016); die stunde mit dir selbst. S. Fischer (2018); Reiner Kunze über Heinz Theuerjahr. Ed. Pongratz (2018); Doch schade um das Volk. Ed. Pongratz (2018); Nabelschnur zur Welt. Reiner Kunzes deutsch-deutscher Briefwechsel mit Jürgen P. Wallmann. Auswahl und Kommentar von Heiner M. Feldkamp. Ed. Pongratz (2022)
Reiner Kunzes Lyrik und Prosa wurde in dreißig Sprachen übersetzt; er selbst übersetzte aus dem Tschechischen ins Deutsche und schuf zahlreiche Nachdichtungen tschechischer Lyrik.